Hanna Veiler

Studentin, Poetin, Aktivistin, Vizepräsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands, Stuttgart

Vorher Weiter

Mein Jüdischsein ist wie eine Energiezufuhr. Auch dieses Verarbeiten von Trauma, von Exotisierung, von Fremdsein, von generationsübergreifendem Leid, was immer weiter und weiter gegeben wird. Das alles verwandelt sich bei mir in Energie. Und daraus entstehen dann beispielsweise Plakatkampagne, aus der werden Texte und Ideen und irgendwie der Wille, daran zu arbeiten, dass die Welt ein besserer Ort für alle wird.

Hanna Veiler
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Hanna Veiler
Das Buch der Lieder war das erste Buch, dass ich auf deutsch gelesen habe. Ich habe es von meiner Oma zum 9. Geburtstag geschenkt bekommen.

Ich bin Jüdin, in Belarus geboren, aber in Deutschland aufgewachsen. Das ist die kürzeste Version, um darüber zu sprechen.

Ich habe die ganze Zeit von außen gehört: Du bist nicht deutsch genug, du bist nicht russisch genug. Mit 15 wollte ich dann einfach jüdisch sein und habe mich in der Gemeinde engagiert. Und mit 17 hörte ich das erste Mal von der Patrilinearität und dass ich halachisch keine Jüdin bin. Das war ein Moment, in dem ich Angst bekam. Ich habe es dann niemandem mehr gesagt und habe mich gefragt: Wem habe ich das denn schon erzählt? Wer weiß das eigentlich alles? Das hat dann eine jahrelange Krise in mir ausgelöst, bis ich mich entschloss, einen Giur zu machen, der mich von 17 bis 21 beschäftigt hat.

Identifikationsfiguren wie Sophie Scholl sind problematisch. Alle reden darüber, wie toll Sophie Scholl war. Es gibt sogar ein Instagramprojekt mit Sophie Scholl vom öffentlichen Rundfunk. Dabei fand Sophie Scholl es nur blöd, dass die guten deutschen Jungs an der Ostfront sterben für nichts. Sonst waren die Scholls überzeugte Nationalsozialisten. Es gibt Briefe, in denen sie sich antisemitisch äußern. Sie waren ein Teil des Systems. Doch Sophie Scholl wird trotzdem immer wieder zur Heldin stilisiert. Dabei kennt kaum jemand jüdische Widerstandsfiguren oder linke Widerstandskämpfer.

Jüdische Orte sind für progressive Juden ganz oft keine Safe Spaces, weil wir verschiedene Art von Diskriminierung erfahren, sei es die Patrilinearität, sei es queer-Sein oder Feminismus. Und auf der anderen Seite sind progressive Räume, die nicht jüdisch sind, auch keine Safe Spaces, weil wir da Antisemitismus erfahren. Das sind alles blinde Flecken, die ich in letzter Zeit sehr oft thematisiere. Und trotzdem glaube ich daran, dass das die Orte sind, wo wir am ehesten Verbündete antreffen. Aber dazu muss sich etwas verändern.

Ich habe mit jüdischen Aktivistinnen und Freundinnen Gespräche darüber geführt, dass wir alle eine Phase hatten, in der wir krampfhaft deutsch sein und uns von der russischen Herkunft distanzieren wollten. Wir waren besessen darauf zu zeigen, wie integriert wir sind. Jetzt stellen wir diese Migrationsidentität wieder stärker in den Vordergrund.

In meiner Grundschulzeit war ich die Russin für alle und auch für mich selbst. Weil das, was ich vermisst habe, war nicht irgendwas Jüdisches sondern Belarus, das war mein Zuhause mit meinen Großeltern.

Ich war immer stolz Jüdin zu sein. Das habe ich von meiner Oma, die immer betont, welche Nobelpreisträger, Schauspieler oder Künstler Juden sind.

Nach dem Abitur kam für mich der Höhepunkt dieses Identitätskonflikts. Das hat mich psychisch total fertig gemacht. Nicht sagen zu können, wer ich bin. Deshalb bin ich für acht Monate nach Israel gegangen. Ich dachte, dort finde ich alles so toll, dass sich alle meine Probleme in Luft auflösen. Aber Israel hat mich nicht mit offenen Armen empfangen. Ich konnte kein Hebräisch und war diese komische europäische Jüdin, die so viel über den Antisemitismus spricht und nachdenkt. Und das ist nicht cool. In Israel hat man eine völlig andere Mentalität, man muss der starke Jude sein, der in die Armee geht und sich selbst verteidigt und so weiter. Deshalb bin ich zum Studium wieder zurück gekommen.

Vor dem Giur habe ich mich gefühlt wie eine Judin zweiter Klasse. Was darf ich denn eigentlich? Darf ich Kritik üben, darf ich davon träumen, irgendwann Vizepräsidentin der jüdischen Studierendenunion zu sein? Oder ist das unerreichbar für mich, weil ich patrilinear bin. Was passiert, wenn ich meinen Übertritt habe? Was verändert sich dann? Als ich den Giur abgeschlossen hatte, war ich total erleichtert. Das hat mir ein ganz anderes jüdisches Selbstbewusstsein gegeben, weil ich hatte diesen Zettel und konnte ihn jedem ins Gesicht halten und sagen: Hey, du hast es von Geburt an, ich habe es auch von Geburt an, aber ich habe es mir noch mal erkämpft. Und trotzdem weiß ich, dass ich immer noch nicht von allen anerkannt werde. Aber ich wollte allen beweisen: Ich werde jetzt jüdischer, als ihr euch vorstellen könnt.

Meine Oma väterlicherseits hat die ganze Erinnerung in der Familie wach gehalten. Sie hat mit den eigenen Familienmitgliedern Interviews geführt, alles aufgeschrieben und publiziert. Sie ist wie ein wandelndes Archiv. Sie sagt immer, dass alle großen historischen Ereignisse in Osteuropa ab dem 19. Jahrhundert an unserer Familie erkennbar sind.

Die ersten zwei Jahre, die wir in Deutschland waren, lebten meine Großeltern noch in Belarus. Aber bis zur siebten Klasse bin ich immer in den Sommerferien in Witebsk gewesen. Ich würde tatsächlich auch gerne wieder hin. Aber ich brauche mittlerweile ein Visum. Und sicher ist es für mich als Aktivistin nicht.

Vor einem Jahr ist mein Opa gestorben und meine Oma hat mir eine Box mit Bildern übergeben, die ich nie gesehen hatte. Auf einem Bild sieht man mich als Dreijährige im Kindergarten. Ich stehe da und puste auf meinen Finger. Im Hintergrund sieht man eine Chanukkia brennen und vor mir sieht man zwei Kerzen. Eine meiner frühesten Erinnerungen ist, wie ich mir im Kindergarten den Finger verbrannt habe. Tatsächlich aber ich habe mir den Finger verbrannt, als ich zum Ersten Mal in meinem Leben zwei Kerzen für Shabbat angezündet habe. Und ich fand es so unglaublich, weil für mich hat mein bewusstes jüdisches Leben erst mit 16 Jahren angefangen als ich anfing, auf jüdische Ferienlager zu fahren.

Ich bin nicht religiös und ich bin auch nicht gläubig. Ich feiere jüdische Feste, aber nicht aus einem Glauben heraus, sondern aus einem Gemeinschaftsgefühl heraus, wegen der Tradition. Weil ich das Gefühl habe, ich hole etwas zurück, was meiner Familie genommen wurde. Erst von den Nazis und dann von den Kommunisten. Mich füllt das Jüdischsein aus. Ich habe ganz viele Identitäten, manchmal bin ich das, manchmal bin ich jenes, aber jüdisch bin ich bei allem, was ich mache.

Es klingt wie ein Klischee, aber ich bin am meisten in den Bildern von Chagall zu Hause, der auch aus Witebsk stammt. Bei Chagall sieht man dieses Witebsker jüdische Schtetl und genau so hat meine Familie vor der Shoa gelebt. Das ist aber eine Fantasiewelt in meinem Kopf und meinem Herzen, weil das alles nicht mehr existiert.

Ich war im jüdischen Kindergarten in Belarus. Das war ein super Kindergarten, weil wir weniger Kinder waren, Gesangsunterricht und viele Nebenangebote hatten. Wir haben dort koscher gegessen und jüdische Feiertage gefeiert. Ich habe Bilder von mir als kleines Kind an Purim verkleidet. Es war nicht religiös, aber traditionell. Und ich habe mein Leben lang gedacht, meine Eltern haben mich dort aus praktischen Gründen hingeschickt. Vor kurzem erzählte mein Vater, dass es ihm total wichtig war, mich dort jüdisch sozialisieren zu lassen, damit etwas erhalten bleibt.

Meine Oma hat mit mir als Vierjährige über die Shoa gesprochen. Und da habe ich verstanden: Okay, dieses Jüdischsein, das ist nicht nur das, was ich im Kindergarten lerne, es ist nicht nur das Verkleiden oder Kerzenanzünden. Sondern es ist auch eine Last.

Die Veilers, die in Belarus leben, sind alle mit uns verwandt. Vor ein paar Jahren haben wir herausgefunden, dass der jüdische Nachname Weiler oder Veiler aus der Region rund um die Stadt Weil kommt. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass meine Vorfahren irgendwann aus Württemberg in den Osten ausgewandert sind.

Als ich im jüdischen Umfeld aktiv wurde haben mir meine Eltern gesagt, dass ich auf keinen Fall einen Davidstern tragen soll. Dabei hatten sie keine Angst, dass ich verprügelt werde. Sie glaubten eher, dass ich benachteiligt werde. Dass ich dann schlechtere Noten schreibe, weil die Lehrer sehen, dass ich Jüdin bin, dass mich Leute anders behandeln und so weiter. Genau das, was sie erfahren haben. Das hat sich jetzt geändert, weil sie sehen, dieses Umfeld öffnet berufliche Perspektiven und ich wurde dadurch nicht benachteiligt.

Ich war immer neidisch auf die Familien, die eine Generation früher nach Deutschland gekommen sind, wo die Eltern schon auf jüdische Ferientage gefahren sind. Das heißt, die Kinder in meinem Alter sind mit diesen super stolzen jüdischen Eltern aufgewachsen, die zu Hause jeden Feiertag gefeiert haben, die jedes Jahr nach Israel geflogen sind und so weiter. Das ist total krass, weil ganz viele von uns jetzt erst verstehen, wie toxisch das war, weil wir dieses Russische so weggesperrt haben.

Die Jüdische Studierenden Union Deutschlands vertritt die Anliegen aller jüdischer Menschen zwischen 18 und 35 Jahren. Jüdisch ist definiert als Gemeindemitglied. Das vertreten wir nicht alle und das ist ein Problem. Aber wir sind Teil des Zentralrats und können es nicht einfach ändern. Wir wollen auch die Anliegen junger Jüdinnen in die Gemeinden tragen und sie damit interessanter machen. Und wir wollen die Interessen in die Politik und die Gesellschaft tragen. Wir organisieren auch viele Workshops zur Bildungsarbeit, Seminare, Talks und Interviews.

Meine Schwerpunkte bei der JSUD liegen auf allem, was mit Kunst und Kultur zu tun hat. Gerade haben wir eine Plakataktion zum 27. Januar organisiert. Das war so mein Ding. Wir haben drei Plakate anfertigen lassen. Auf dem einen stand: Der Hass gegen uns hat 45 nicht aufgehört. Auf dem zweiten stand: Es fing nicht in Auschwitz an. Und auf dem dritten: Erinnern heißt verändern. In der Nacht zum 27. Januar haben wir diese Plakate in 16 deutschen Städten an Orten, die einmal jüdisch waren, aufgehängt. Die Orte sind aber nicht gekennzeichnet und ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Jüdische Cafés und Salons etwa, also Orte, die Teil des jüdischen Lebens waren, aber von denen heute niemand mehr weiß, weil da Parkhäuser gebaut wurden. Zusätzlich gab es ein Video mit einem Manifest des Erinnerns. Und das haben wir auch zusammen mit Sinti und Roma Pride gemacht, weil die bei Erinnerungsfragen immer vergessen werden.

Ich kämpfe aber auch für eine Aufklärung der jüdischen Feiertage bezüglich der Staatsexamen an Universitäten. Die Staatsexamen der Mediziner sind immer an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Und wenn man den einhält muss man ein Jahr auf das nächste Examen warten. Man stelle sich vor, jemand sei gezwungen an Weihnachten sein Staatsexamen zu schreiben. Dabei könnte man einfach in einen interreligiösen Kalender schauen.

Man hat sich in den vergangenen Jahren wirklich Mühe gegeben, bei ganz vielen Themen aware zu sein. Aber niemand redet über Antisemitismus. Weil sich niemand mit Jüdinnen beschäftigt. Das macht mich extrem wütend. Das Narrativ ist ja: Die Deutschen sind heute wieder gut. Schau mal, wie toll wir unsere Minderheiten behandeln. Wir reden wenigstens darüber. In Frankreich redet niemand darüber, was die gemacht haben. In Polen auch nicht. Zu sagen „Schaut doch mal bei den anderen und wir sind so toll“ ist Teil des deutschen Selbstverständnis, es wird immer externalisiert. Bei uns im Land gab es die Shoah, aber das waren nicht wir. Das war eine externalisierte böse Elite an Nazi-Oberhäuptern. Alle anderen waren einfach Soldaten, die mussten Befehle ausführen, die haben gar nicht daran geglaubt. Sie waren alle im Widerstand. Wenn nicht im aktiven Widerstand, dann waren sie im inneren Widerstand. Das stimmt nicht. Das sind solche Mythen und das lernen wir auch in der Schule

Ich war in meinem ersten Semester bei einer Veranstaltung über Antisemitismus in der Linken. Und da saß ein älteres Ehepaar und beide meinten, weil deren Eltern Nazis waren, sei es heute ihre Verantwortung, gegen den Staat Israel aufzustehen. Israel wird also mit dem Dritten Reich gleichgesetzt: Die Juden sind die neuen Nazis.

Den Israel-Palästina-Konflikt können wir aus einem jüdisch-muslimischen Dialog sehr schwer ausklammern. Das ist der Elefant im Raum. Aber ich habe ein Problem damit, wenn Deutsche mir erklären wollen, was meine Leute in Palästina machen würden. Und das passiert sehr oft.

Für mich ist der Kampf für Gerechtigkeit etwas ganz Jüdisches. Sich nicht damit abfinden, dass es Ungerechtigkeit gibt, sondern daran zu arbeiten, dass die Welt besser wird. Alles um mich herum ist jüdisch, meine Gefühlswelt, meine Kreativität.

Wie sicher ist es gerade zu sagen, dass ich Jüdin bin? Das ist immer situativ. Es ist immer eine Abwägung. Will ich eine Diskussion darüber, erwarte ich, dass das Gegenüber anfängt, mir Fragen zu stellen, die ich nicht beantworten möchte, weil ich keine Ressourcen dafür habe, weil ich müde bin, was auch immer? Aber wenn ich die Zeit habe, wenn ich die Lust habe, darauf einzugehen, dann muss ich ausholen.

Mit sieben Jahren kam Hanna Veiler 2005 von Witebsk in Belarus nach Baden-Baden. Sie ist Poetin und Aktivistin, schreibt über Identität, Antisemitismus und Erinnerungskultur und ist in verschiedenen jüdischen und politischen Organisationen aktiv. Sie engagiert sich für Sichtbarkeit von jüdischem Leben und ein tolerantes, verstehendes Miteinander. In Tübingen studiert sie Französisch und Kunstgeschichte.