Sharon Brauner

Schauspielerin, Musikerin, Berlin

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Jiddische Lieder habe ich angefangen zu singen, als mein Vater seinen 75. Geburtstag in Tel Aviv gefeiert hat. „Ikh hob dikh zufil lib“ heißt das Lied. Mein Papa hatte Tränen in den Augen und hat dabei gelächelt. Da habe ich verstanden, was es ihm und seinen ‚Mentshelechs‘ bedeutet: dass die Musik eine Art Brücke zu ihren Eltern und ihrer Kindheit ist. Solange mein Vater lebt, werde ich diese Lieder singen, weil ich sie für ihn singe. Jiddisch ist die Muttersprache meines Vaters, seine „Mameloschn“.

Sharon Brauner
Sharon Brauner
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Sharon Brauner
3D-Figuren meiner Eltern Wolf und Renée Brauner.

Meinem Sohn sage ich immer, das sind „Mentshelech“, ich sag ihm nicht, wir sind Juden. Ich möchte nicht, dass er ein Schubladendenken entwickelt. Und ich möchte nicht, dass er sich dazu, solange er nicht stark genug ist, mit anderen auseinandersetzen muss. Dazu ist das ganze Thema viel zu komplex. 

Alle, die ich aus der „Second Generation“ kenne, haben eine überirdische Verehrung für ihre Eltern. Ich habe keine rebellische Pubertät gehabt und habe mich nie gegen meine Eltern gewandt. Nie. Sie waren immer meine größten Helden. Bei uns wird alles getan, um die Eltern zu beschützen und zu behüten, wie den größten Schatz auf Erden.

Mischpoche ist Familie. Und Familie ist mir heilig. Nicht nur die eigene, sondern auch die Freunde, die man im Leben dazu gewinnt. 

Ob ich stolz bin Jüdin zu sein? Das ist doch keine Leistung! Stolz bin ich nur auf das, was ich selbst geschaffen habe – und auf meine Eltern.

Das Judentum ist so eine komplexe Geschichte und jeder kann sich raussuchen, was er will. Für manche ist es eine Religion und ein Halt. Für andere ist es ein Volk. Für meinen Vater ist es Tradition, die man nicht verlieren darf. Für mich ist es meine Familie.

Meine Großmutter ist eine urdeutsche Jüdin gewesen, eine Preußin, blond mit blauen Augen. Für Hindenburg hat sie gesungen, im alten Olympiastadion. 1915 geboren, eine Patriotin und Ur-Berlinerin. Sie wollte die Stadt nie verlassen. Ihre Großmutter wiederum hatte sie als Kind bereits gewarnt: „Sei dir nie sicher, es gibt keine Generation von Juden, die unbeschadet davongekommen ist. Nicht eine.“ Meine Ur-uroma wurde mit 80 Jahren in Theresienstadt ermordet. 1939 konnte ihre Enkelin, also meine Oma, dann gerade noch, mit meiner Mutter unter dem Arm, aus Berlin flüchten. Nach dem Krieg zog sie verhältnismäßig schnell wieder zurück in ihre Heimatstadt. Sie hat Berlin geliebt, wie ich es tue, hat mich aber auch immer wieder ermahnt, achtsam zu bleiben. Irgendwann in den 1990ern habe ich meiner Oma gesagt: „Das wird nie wieder passieren. Die Menschen sind doch nicht bescheuert. Es gibt eine Evolution und wir haben alle daraus gelernt.“ Es kam die Loveparade, One Love, ein Klo für alle, Nelson Mandela war frei, die Mauer war weg. Globalisierung und so was. Aber sie hat mir das gleiche gesagt, wie schon ihre Großmutter ihr gesagt hatte: „Kind, sei dir trotzdem nicht so sicher, dass Berlin deine Heimat bleibt, bleibe beweglich.“ 

Als Kind war ich mal im Krankenhaus, weil ich Asthma hatte. Und da waren zwei Jungs, mit denen habe ich mich gut verstanden. Wir lagen gemeinsam auf den Betten und haben meine Comics gelesen. Wir waren 12 oder 13 Jahre alt und beste Freunde. Und irgendwann sind sie aus dem Nichts rein marschiert, haben mich aus meinem Bett rausgeschmissen, in die Ecke getreten und gesagt „Du bist die letzte Jüdin, wir haben vergessen dich zu vergasen.“ Und keiner hat mit geglaubt, außer meinem Vater. Er war der einzige, der hinter mir stand. Werde ich nie vergessen. Es war komisch: Die Ungerechtigkeit, dass mir keiner geglaubt hat, empfand ich als viel schlimmer als die Tat als solche.

Es gab diese Debatte über Beschneidungen in Deutschland, wegen Körperverletzung. Und an dem Tag, als mein Sohn geboren wurde, ist das Gesetz verabschiedet worden, dass die jüdische Beschneidung erlaubt ist. Ich wollte das nicht. Mein Mann schon. Schließlich hat er sich für eine medizinische Beschneidung in einer Praxis entschieden und einen jüdischen Chirurgen gefunden. Mein Vater kam mit Gebetsbuch und mit meinen Schwestern. Plötzlich holte mein Mann, ein Katholik übrigens, diese Heringe und den Wodka aus der Tasche raus. Der Chirurg und mein Vater beteten und auf einmal wurde es eine traditionelle Beschneidung. Es war schön. Unser Sohn hat nicht mal geweint.

Meine Initialzündung als Sängerin war bei meiner Bat Mitzwa. Ich habe nach dem Gebet ein Lied gesungen. Danach war da so eine eigenartige Stille und ein paar Leute haben geweint. Eine Woche später wurde eine Hochzeit gefeiert und da wurde ich wieder gebeten, dieses Lied zu singen. Ab da musste ich fast auf jeder Feier singen. Da immer das gleiche Lied irgendwann eintönig wurde, habe ich mir ein Repertoire erarbeitet. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich freiwillig auf eine Bühne zu stellen, aber es hat bei den Zuhören etwas ausgelöst, deswegen habe ich weiter gemacht.

Ich habe meine Bat Mitzwa gemacht, weil mein Opa kurz zuvor verstorben war. Seine Eltern und viele seiner Geschwister sind im Holocaust umgebracht worden. Es war mir plötzlich ein tiefes Bedürfnis, ihn im Nachhinein nicht zu enttäuschen und mit dieser Tradition nicht zu brechen.

Ich habe früh angefangen, die Geschichte meiner Familie aufzuzeichnen. Mit Holocaust-Geschichten bin ich schließlich groß geworden, es wurde bei uns nie geschwiegen, wie bei vielen anderen. Und bei uns zu Hause waren oft auch Freunde und Verwandte zu Gast, die keine eigene Familie mehr hatten.

Die Überlebenden verlassen uns. Mit ihnen schwindet die Welt, in der ich groß geworden bin, was mich unendlich traurig macht. Auch wenn das „die Mathematik des Lebens“ ist, wie ein Freund mir neulich gesagt hat, wird die Welt ohne diese Seelen für mich nie wieder so schön sein, wie sie war.

Mein Vater hat nicht gerne über die Verbrechen des Holocausts geredet. Seine eigenen abenteuerlichen Fluchtgeschichten kannten wir aber alle von klein auf. Er hat lieber immer wieder versucht zu analysieren, wo der Antisemitismus überhaupt herkommt? Und wie so etwas möglich sein konnte, auf diesem wunderschönen Planeten. Mit ihm bin ich ganz früh philosophisch auf die Reise gegangen. Er hat mir Zeitungsartikel, die er wichtig fand, über Jahre hinweg in die Hand gedrückt. Nach und nach kamen dann die Bücher, in den 1970er, 80er und 90er Jahren. Meine Mutter hat sie verschlungen und wurde eine Expertin. Da gab es eine Flut an Aufklärung und das hat sie uns mitgeteilt. Ich glaube, ich hatte viel zu früh von der Perversität eines Mengeles erfahren.

Meine Oma ist rechtzeitig weggegangen und hat mit ihren Geschwistern, ihrem Mann, ihrer Tochter und ihrer Mutter überlebt. Mein Vater hat unglaublicherweise mit seinen vier Geschwistern und seinen beiden Eltern überlebt. Ich kenne keine einzige Familie außer meinen Eltern, denen in diesem Unglück, solch ein Glück beschert war. Der Vater meiner Mutter hat den Krieg zwar lange überlebt, ist aber mehr oder weniger an gebrochenem Herzen gestorben. Von seiner großen Familie haben mit ihm nur zwei Schwestern überlebt.

Meine Mutter hat mir außer ihrer Liebe noch zwei Dinge mit auf den Weg gegeben: Du hast die Pflicht glücklich zu werden, denn wir haben das alles überlebt, damit du glücklich bist. Und: Du musst Kinder kriegen, sonst tritt das ein, was Hitler wollte: du stirbst aus, wir sterben aus.

Ohne es zu wissen, habe ich fast immer Musik von jüdischen Komponisten oder Textern gesungen. Viele Lieder im „American Jazz Standard Songbook“ und auch viele amerikanische Weihnachtslieder sind von jüdischen Komponisten. Das war mir nie aufgefallen. Warum auch? Ich bin zufällig bei einer Recherche für ein Programm darauf gestoßen.

Im Laufe der Zeit kamen immer wieder Menschen und haben mir alte, wunderschöne Liebeslieder und andere musikalische Juwele gegeben. Daraus sind dann Konzertabende entstanden. Aber das meiste davon sind immer noch die Lieblingslieder meines Vaters.

Das Grauen der Shoah habe ich bewusst nie thematisiert, sondern nur Lieder gesungen, die vom Leben handeln. Weil dies den Überlebenden gezeigt hat, dass ihre Kultur nicht ermordet worden ist, dass sie nur an einem anderen Ort weiterlebt. Diese Lieder tragen einen dorthin. Dafür habe ich unfassbar viel Liebe und Wärme zurückbekommen. Das war teilweise überwältigend, denn es war mir immer eine Ehre, diesen Menschen etwas geben zu dürfen. Leider war es nur eine relativ kurze Phase. Wenn ich jetzt Konzerte gebe, fehlen diese Leute mittlerweile. Leider. Corona tat sein Übriges.

Ich wurde vor Kurzem bei einem Konzert in einer Kirche als jüdische Sängerin vorgestellt. Und da dachte ich: „Wie lustig sich das anhört. Was ist denn eine jüdische Sängerin? Man sagt ja auch nicht: die evangelische Tänzerin.“ Aber was soll’s?!

Ich erlebe Spiritualität vor allem in der Natur, oder nachts beim Blick in den Sternenhimmel, nicht in einem Gebetshaus, beim Lesen und Wiederholen von Weisheiten, die Männer vor Jahrtausenden niedergeschrieben haben. Das meine ich nicht abfällig, denn alle Kernaussagen der verschiedenen Religionen sind im Endeffekt gleich und wunderschön. Diese Wahrheiten sind sozusagen universalgültig. Einmal verstanden gilt es diese im Leben anzuwenden, dafür brauche ich keine Religionszugehörigkeit. Das was wir Gott nennen, ist für alle dasselbe und für ihn sind wir vermutlich alle gleich, auch jede Ameise. Deswegen habe ich schon als Kind keinen Zugang zu bestehenden Religionen verspürt, sondern mir meine eigene gebastelt.

Fassungslos macht mich die zunehmende Judenfeindlichkeit im Internet. Im echten Leben kenne ich keine. Doch im Netz treibt absurderweise soviel altes Nazigedankengut im neuen Kleid sein Unwesen, dass ich manchmal an der Menschheit zweifle. Ich dachte: „Okay, pack schon mal deine Koffer, der Wahnsinn macht sich wieder breit.“ Jetzt schaue ich einfach nicht mehr hin und befasse mich lieber mit den Menschen um mich herum.

Ich habe es lange nicht wahr haben wollen: Ich liebe Berlin, Deutschland, Europa, die Menschen hier. Als Kind zweier Holocaustüberlebender spüre ich aber schon seit Jahren, dass sich Dinge verändern und dass es vielleicht Zeit ist, sich umzuorientieren. Meine Familie und meine Freunde haben mich zuerst nicht verstanden und dachten, dass ich maßlos übertreibe. Mittlerweile sprechen wir darüber nicht mehr, diskutieren nur noch die Frage: Wohin könnte man gehen?

Dass es ein rechtes und ein linkes politisches Spektrum gibt, ist gesund. Ich bin die Verkörperung der radikalen Mitte. Und würde mich nie zu weit nach links oder rechts lehnen, nur so weit, wie die Arme reichen, um denen, die am Rand stehen, die Hand geben zu können, damit sie nicht runterfallen. Ein gesunder Staat braucht viele Ideen und Freigeister und muss auch Andersdenkende ertragen, solange sie friedlich sind. Alles andere ist ausgrenzend.

Neulich habe ich in einer Synagoge gespielt und aus dem Fenster geschaut und plötzlich sah ich den Polizeiwagen. Es gibt vor jüdischen Einrichtungen immer Polizeischutz. Das ist so selbstverständlich, dass ich darüber nie nachdenke, aber plötzlich empfand ich das nicht mehr als selbstverständlich. Eine Woche später bei einem Open Air Konzert in Freiburg zur Eröffnung der jüdischen Kulturtage wieder ein Polizeiaufgebot. Dabei waren die meisten Zuhörer bei beiden Veranstaltungen gar keine Juden gewesen. Beim Singen habe ich gedacht: „Das ist alles so absurd, vielleicht doch lieber eine Tauchschule in der Südsee eröffnen?“

Sharon Brauner hat drei Geschwister und wurde in West-Berlin geboren. Dort absolvierte sie eine Musical-Ausbildung und in New York eine Schauspielausbildung. Sie veröffentlichte fünf Musikalben und wirkte an mehr als 60 Fernseh- und Kinoproduktionen mit. Sie komponiert eigene Musik und arrangiert jiddische Lieder neu, um dieses kulturelle Erbe auch im 21. Jahrhundert zu bewahren. Sie ist die Tochter von Wolf und Renée Brauner. Als Kind hielt sie Jiddisch für eine Geheimsprache, wenn ihr Vater mit anderen Überlebenden des Holocaust beim Kartenspiel in der Sprache der osteuropäischen Juden sprach.