Mich interessiert auch die Frage, wie wir das Jüdisch-Sein und das Frau-Sein zusammendenken können. So, dass sich beides gegenseitig bereichert. Deshalb organisiere ich auch den „Jewish Women Empowerment Summit“, wo Frauen das aushandeln können. Es gibt auch wenig Bewusstsein innerhalb der jüdischen Gemeinden da-für, welche Rollen Frauen in einer jüdischen Community haben. Das ist weniger eine religiöse als eine soziale Frage, genauso wie im gesamtgesellschaftlichen Kontext auch.
Laura Cazés
Leiterin der Abteilung Kommunikation der ZWST, Frankfurt
Es gibt in meinen beiden Familienteilen ein sehr unterschiedliches Verständnis davon, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Aber es gibt einen gemeinsamen Nenner, der ist das Jüdisch-Sein.
Die Phantasmen einer jüdischen Kontinuität in Deutschland ohne das Eingeständnis, dass Antisemitismus dieses Land nicht verlassen hat, funktioniert nicht. Und das benennen jüdische Menschen heute sehr eindeutig. Dazu hat sich eine gemeinsame Sprache entwickelt. Zu sagen: Jüdische Menschen sind kein Geschenk für Deutschland; jüdische Menschen sind auch keine „Mitmenschen“; jüdische Menschen haben kein eindimensionales Identitätsverständnis; jüdische Menschen wollen nicht dann zu Juden gemacht werden, wenn es den anderen passt, sondern selber bestimmen, was das bedeutet und wann sie sich zu bestimmten Themen äußern. Jüdische Menschen wissen, dass es keinen antisemitismusfreien Raum in Deutschland gibt, und zwar gar keinen.
In der sephardisch-türkischen Familie meines Vaters gibt es keinen biografischen Bezug zur Shoah. Sie sind vor knapp hundert Jahren aus der Türkei nach Argentinien ausgewa-ndert. Das erste Mal von der Shoah gehört hat er von seinem jüdischen Nach-barn, der aus Polen kam. Und obwohl es mit ihnen selber nichts zu tun hatte, war meinem Vater der eigene Bezug klar, weil sie jüdisch waren.
Die Familie meiner Mutter stammt aus Polen. Sie ist in Deutschland geboren, aber die ganze Familiengeschichte ist gezeichnet vom Überleben. Von denjenigen, die überlebt haben und denen, die nicht überlebt haben. In diesem Teil der Familie gibt es eine innere Selbstverständlichkeit, dass das Jüdisch-Sein gesetzt ist. Gleichzeitig gibt es ein anhaltendes Ringen mit Deutschland und was dominiert im Jüdisch-Sein.
Wenn du in Deutschland „Juden“ in einem Raum sagst ist er sofort aufgeladen. Die Leute haben Auschwitz im Kopf, einen Rabbiner, den Hinterkopf mit der Kippa, Antisemitismus, Israel-Konflikt und so weiter.
In dem Moment, in dem man sich als jüdisch zu erkennen gibt wird man zur Projektionsfläche gemacht. Das wird nicht besser dadurch, dass man in Vertretung einer Institution auftritt. Im Privaten ist es teilweise noch eindringlicher, als wenn man in einer professionellen Rolle auftritt.
Und vor diesem Hintergrund wollen viele Eltern ihre Kinder schützen und sagen ihnen: „Check den Raum, in den du reinkommst, bevor du sagst, dass du jüdisch bist. Um dich selber zu schützen und dich nicht dem aussetzen zu müssen, was wir selbst auch erlebt haben.“
Heute weiß ich (auch aus meiner Arbeit für die ZWST), dass mein Aufwachsen eine Ausnahme war, die für die meisten jüdischen Kinder und Jugendlichen nicht existiert. Die meisten sind in diesem Moment, in dem sie feststellen, dass ist das, was mich von den anderen unterscheidet, allein. Das ist eine einsame Erfahrung. Weil 100.000 Gemeindemitglieder in Deutschland auf über 100 Gemeinden verteilt sind. Hinzu kommt eine sehr überalterte Altersstruktur. Das bedeutet, dass sie in ihrem Alltag die einzigen Juden sind. Im Sportverein, in der Schule und so weiter und so fort.
Ich bin in einem Umfeld und in einer Zeit aufgewachsen, in der ich mein Jüdisch-Sein mit anderen Dingen belegen konnte. Ich konnte in die jüdische Schule und das Gymnasium gehen. Und weil das ein einigermaßen sicheres Umfeld war, konnten wir durch unsere Selbstkundgabe sagen: „Ich bin jüdisch.“ Das ist zum Beispiel etwas, was meine Mutter nie hatte.
In eine jüdische Schule oder in einen jüdischen Kindergarten zu gehen bedeutet auch eine hermetische Abriegelung. Durch den Polizeischutz, das Sicherheitspersonal, das Panzerglas, all diese Dinge. Und gleichzeitig habe ich nie das Gefühl gehabt, dass das ein sozial abgeriegelter Raum war. Es gab nicht jüdische Kinder in meinem Kindergarten, in meiner Schule, sowohl in München als auch in Frankfurt. Diese Hybridität hat sich durch meine ganze Schulzeit fortgesetzt.
Mein Vater hat mir weitergeben, dass Jüdisch-Sein nicht verhandelbar ist. Und auch nicht ablegbar. Der kleinste gemeinsame Nenner ist nicht nur zu sagen „Ich bin jüdisch“, sondern dass irgendeine Form der Tradition eine Rolle spielt. Weil das nicht nur identitätsstiftend im Persönlichen ist, sondern auch gemeinschaftsbildend.
Mit elf Jahren habe ich das erste Mal Pessach in Argentinien gefeiert. Da habe ich mich gewundert, warum meine Großmutter so viele Schwestern hat. Weil das bei meiner anderen Großmutter nicht der Fall war. Sie war die einzige Überlebende ihrer Familie. Das habe ich überhaupt nicht verstanden. Ich dachte, Großeltern haben keine Geschwister.
Auch das Essen an Pessach in Argentinien habe ich nicht verstanden. Ich kannte nichts außer die Mazza und habe dann die ganze Zeit gefragt: „Ist es wirklich koscher für Pessach?" „ Ja, klar kennst du das nicht?" Damit war dieser aschkenasischen Blick, mit dem ich sozialisiert war, total gebrochen, weil ich dachte: "Wieso wird mir jetzt gesagt, dass ich das nicht kenne?" Ich kenne nur gefillte Fisch. Und nun aßen wir dort typisch türkisch-jüdische Gerichte.
Damals habe ich verstanden, dass es in meiner Familie nicht nur eine Art und Weise, Jüdisch-Sein zu leben gibt. Es gibt aber nur eine Art und Weise, jüdisch zu sein, nämlich Jüdisch-Sein.
Ich finde es unglaublich spannend und auch extrem inspirierend, dass soziale Fragen über die Gleichberechtigung von Frauen auch schon vor über 100 Jahren verhandelt wurden. Bertha Pappenheim war eine der Haupt-Initiatorinnen der ZWST. Sie hat sich unter anderem im Frankfurter Bahnhofsviertel gegen jüdischen Mädchenhandel aus Osteuropa engagiert. Das war absolute Pionierarbeit. Unsere vermeintlich revolutionären Gedanken sind überhaupt nicht neu.
Was aber in unserer Generation jetzt entsteht, ist ein Umgang mit diesem Spannungsfeld zwischen Fremdwahrnehmung und Selbstbestimmung, das sich auf ganz unterschiedliche Formen oder Arten und Weisen ausprägt: kreativ über Filme, Bücher, Late Night Shows. Das gab es so vorher noch nicht und das hat damit zu tun, dass wir zum ersten Mal eine gemeinsame Sprache für unterschiedliche Erfahrungen haben. Und diese Sprache ist deutsch.
Im Kontext von jüdischer Identität gibt es eine Verankerung von Resilienz. Das hat mit der Kontinuität von Diskriminierung und Verfolgung zu tun. Die Art und Weise, wie bestimmte Situationen oder Herausforderungen in der jüdischen Geschichte in die Tradition und die Feiertage eingeflossen sind, das ist etwas Jüdisches. Dazu gehört auch die Shoa. Die Art und Weise wie Pessach oder Purim gefeiert wird hat eine Art von haptischem Zugang zur eigenen Identität. Sie macht es greifbarer, wie du aus der Vergangenheit für die Zukunft lernst.
Ich war immer schon sozialpolitisch an der Frage interessiert, inwieweit die jüdische Community in mehrheitsgesellschaftlichen Diskursen wahrgenommen wird, oder ihnen nur Rollen zugeschrieben werden? Zusätzlich möchte ich Themen, die mich persönlich als Teil dieser Gesellschaft beschäftigen, wie der Feminismus, ebenfalls mit einbringen. Deshalb schaffe ich mit meiner professionellen und auch ehrenamtlichen Arbeit Räume, in denen man diese Perspektive verbinden kann.
Laura Cazés wurde 1990 in München geboren. Nach ihrer Schulzeit verbrachte sie ein halbes Jahr in Buenos Aires und studierte dann Psychologie und Sozialmanagement in Göttingen und Berlin. Seit 2015 arbeitet für die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und leitet dort den Bereich für Kommunikation und Digitalisierung. Als Autorin und Speakerin beschäftigt sie sich mit der Diversität jüdischer Lebenswelten in Deutschland und deren Wahrnehmung. Im Herbst 2022 erscheint der von ihr herausgegebene Essayband „Sicher sind wir nicht geblieben – Jüdischsein in Deutschland“. Laura Cazés lebt in Frankfurt am Main.