Marina Chernivsky

Psychologin, Verhaltenswissenschaftlerin, Berlin

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Ich habe einen Teil meiner Kindheit in Israel verbracht und da hatte mich niemand gefragt, was es bedeutet, als Jüdin in Israel zu leben, weil es einfach völlig überflüssig war. Ich habe mir viele andere Fragen gestellt. Aber nicht diese.

Marina Chernivsky
Marina Chernivsky

In meiner Kindheit in Lviv war es nicht selbstverständlich, offen jüdisch zu leben. In Israel wiederum konnte ich einfach nur jüdisch sein. Ich lebte im Internat, weit weg von meiner Familie, war drin im Leben. 

Wenn ich mich jetzt erinnere, wann das Jüdische bedeutsam  geworden ist, finde ich einige Wendepunkte. Mein Jüdischsein in der Ukraine war mit der Erkenntnis verbunden, anders zu sein. Dabei gab es noch etwas Großes, was nicht offen besprochen wurde. Eine ganz spezifisch jüdische Geschichte der  Verfolgung und Vernichtung, aber auch der Überlebenskraft befand sich in dieser Leerstelle. Das  Jüdische an mir war manchmal wie eine Wand. Ich konnte vieles regeln, aber das Gefühl, etwas an mir anpassen zu müssen, blieb.

Das waren sicherlich auch Anlässe für meine spätere berufliche Beschäftigung. Mich trieb die Frage um: Was heißt es, markiert zu sein und anders gemacht zu werden? Ich wollte verstehen, was Menschen dazu bringt, andere Menschen zu verabscheuen. Ich wollte es für mich klären und machte diese Fragen zu meinem Beruf. 

Die Beschäftigung mit Geschichte ist für mich eine Brücke zum Wissen und den Erfahrungen meiner Familie. Die Gegenwart, die sich mit der Vergangenheit durch einzelne Fragmente verbindet, ist nie die ganze Wahrheit. Im Laufe meines Lebens, in Israel, in Berlin, nun auch zunehmend in der Ukraine, konnte ich die vielen Puzzlestücke zusammenführen. Durch die jüdische Liturgie und die jüdischen Feiertage begreife ich noch einmal anders, was Geschichte und die Verbindung mit Vergangenheit bedeutet. 

Ich weiß, dass die Religion aus jüdischer Sicht Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt erhalten hat. Aber ich erahne zugleich dieses Gefühl der Angehörigkeit und Zugehörigkeit. Nicht etwas, das besonders ist, sondern zu etwas, das dazu gehört. Ich bin einfach jüdisch – und meine Kinder sind es auch.

Wir haben es bei ein und derselben Geschichte mit unterschiedlichen Erinnerungen zu tun, die nicht angeglichen werden können. Wenn ein Teil der Geschichte verschwiegen wird, ist es der Auftrag der Nachkommen, einen eigenen Zugang dazu zu finden. Meine Großeltern sprachen Jiddisch miteinander, wenn sie wollten, dass wir sie nicht verstehen. Hinter ihrer Flüsterei verbarg sich ein Wissen, das mir, uns, leider lange verborgen blieb.

Ob ich religiös bin? Diese Frage kann ich nicht so leicht beantworten. Ich nehme mir viel Raum für meine Entscheidungen. Seitdem ich eigene Kinder habe, wird diese Frage zum Spannungsfeld. Es wird ein Prozess bleiben in dem das Bedürfnis, das Jüdische mit spirituellen und lebendigen Inhalten zu verbinden, überwiegen wird. Das jüdische Wissen und das jüdische Leben faszinieren mich, ich erkenne den Sinn der Tradition und stehe ganz bewusst irgendwo dazwischen.

Marina Chernivsky ist Psychologin und Verhaltenswissenschaftlerin. Sie forscht auf dem Themengebiet Antisemitismus und Diskriminierung, ist Lehrbeauftragte und Bildungsvermittlerin. Sie leitet das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment und ist Gründerin sowie Geschäftsführerin von OFEK e.V. Sie war Mitglied im Zweiten Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages und im Beratungsgremium des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus. Außerdem ist sie Mitherausgeberin der Zeitschrift “JALTA – Positionen zur jüdischen Gegenwart”.