Eva Nickel

Ökonompädagogin, Sozialarbeiterin, Berlin

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Ich bin deutsche Jüdin. Das habe ich gemerkt, als ich in Israel war. Aber eigentlich bin ich Berliner Jüdin, vor allem, weil der Widerstand im Prenzlauer Berg so stark war. Darauf bin ich stolz.

Eva Nickel
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Meine Schwestern Ruthchen und Gitti im Jahr 1941 am Scharmützelsee. Sie konnten sich zunächst verstecken wurden aber im Jahr 1944 verraten und nach Auschwitz deportiert und dort vergast.

Je älter ich werde, umso jüdischer werde ich. Das ist im Laufe meines Lebens immer in Wellen verlaufen. Es war mal mehr, mal weniger. Und ich habe es entsprechend meiner Lebenssituation auch unterschiedlich verar-beitet und meine Meinung 1000 mal geändert. Aber Jüdin war ich immer. 

Mein Vater, der kein Jude war, hatte immer solche Sprüche drauf, die mich unheimlich beeinflusst haben. „Du hast das Schwert in die Wiege gelegt bekommen, du musst kämpfen.“ Oder: „Ruthchen und Gitti sind tot und du lebst!“ Früher fand ich das einfach nur blöd, später habe ich gelächelt. Und jetzt habe ich es angenommen.

Ich konnte die Traumata meiner Mutter mit ihren Flashbacks nur überstehen, weil ich so viele Leute um mich hatte, die ihr schon während des Krieges geholfen hatten und mir Dinge erzählen konnten, die ihr Verhalten erklärt haben. Das gleiche Netzwerk hat mir später bei der Recherche geholfen, das Puzzle meiner Familiengeschichte zusammenzusetzen – zum Beispiel den Verrat an Ruthchen und Gitti bis zu ihrem Tod in Auschwitz.

Ich bin in einer nichtjüdischen Umgebung oft als exotisch betrachtet worden, oder als Opfer, bis mir das so auf den Senkel ging, dass ich dagegen richtig gekämpft habe. Und da ich mein Herz auf der Zunge trage, habe ich immer etwas zu sagen. Und so bin ich geworden, wie ich bin.

Wir Nachgeborenen sind keine Überlebenden. Unser Leben war nie in Gefahr. Unser Charakter, unsere Psyche war in Gefahr. Und wir mussten aufpassen, da nicht hineingezogen zu werden. Aber unser Leben war nie in Gefahr.

Mein sozialistischer Vater hat mir mal die Bibel hingelegt und meinte, „Lies das! Das ist ein guter Polit-Thriller.“ Und ich ziehe aus der Thora und aus dem Talmud Weisheiten, aber ich glaube nicht an Gott. Wo war Gott denn, als Ruthchen und Gitti vergast wurden, wo war er denn da?

Ich nenne den BDS ja „Kauft nicht beim Juden“. Das ist mir in einem Ökoladen im Prenzlauer Berg passiert. Und als ich der Frau sagte, „so was hatten wir hier schon mal, bei ihnen kaufe ich nichts“, ist die hinter mir hergerannt und hat über die ganze Straße wie eine verrückte geschrien. Da hatte ich richtig Angst.

Natürlich gab es in der DDR haufenweise Nazis. Das sehen wir jetzt, wo Höcke, Gauland, Weidel, Storch und Co. diese Leute wieder einsammeln. Und wenn wir nicht aufpassen, wird das die neue SA. Die NSU haben wir ja schon.

Was in der DDR nicht sein durfte, war nicht und wurde gedeckelt. Und wenn es Nazis gab, verschwanden diese in Gefängnissen und lernten dort noch mehr Rechte und ihre Ideologien kennen.

Ich bekämpfe meine Angst vor dem Wiedererstarken des rechten Gedankengutes mit Gegenaktivitäten. Ich gehe in Schulen, halte Vorträge und trete offensiv als Jüdin auf.

Ich mache im Prenzlauer Berg Stadtführungen zur Nazizeit. Und ich kann dazu viel erzählen, weil ich die Widerständler kannte, die meiner Mutter und anderen geholfen haben: Tante Anni, Tante Emmi, Tante Gila, Tante Meta, Onkel Herbert, Tante Elisabeth und so weiter. Mit denen bin ich groß geworden. Und mir ist es wichtig, diese Geschichten weiterzugeben.

Ich zünde fast regelmäßig die Kerzen am Shabbes an. Nicht aus religiösen Gründen. Die Kerzen und der Segensspruch, das bedeutet für mich: Jetzt ist Wochenende! Das ist wichtig für mich. Und jetzt als Rentnerin, wo die Tage so fließend sind, ist das ein psychologisch wichtiger Moment, der eine Struktur ins Leben bringt.

Ich sehe die Welt als Jüdin mit anderen Augen. Diese Prismen, die man sich vor das Auge hält, sind geschliffen durch Jahrhunderte der Verfolgung, Unterdrückung und Ermordung. Aber, um auf einen guten Weg zu kommen, muss man alles hinterfragen und alle Positionen miteinbeziehen.

Eva Nickel wurde am 6. 7. 1948 im jüdischen Krankenhaus in Berlin geboren. Nach einer Lehre als Maß- und Gewandschneiderin studierte sie Ökonompädagogie in Aschersleben und arbeitete als Lehrobermeisterin bei VEB Gaststätten HO Berlin. Nach der „Wende“ wurde sie Sozialarbeiterin in der vereinigten jüdischen Gemeinde in Berlin und spezialisierte sich auf alte und ehemalige NS-verfolgte Mitglieder mit PTBS und Traumata. Seit 2013 ist sie in Rente und engagiert sich weiterhin ehrenamtlich in der Gemeinde, macht jüdische Stadtführungen und Schulbesuche und hält Vorträge über PTBS und Umgang mit traumatisierten alten kranken Menschen.