Aaron K. Roth

Leiter der Geschäftsstelle der Werteinitiative jüdisch-deutsche Positionen, Berlin 

Vorher Weiter

Ich habe viele Identitäten. Dass ich Jude bin, spielt eine ganz große Rolle. Dass ich schwul bin, spielt ebenfalls eine große Rolle. Dass ich „doppelter“ Migrant bin, ist wichtig. Ich fühle mich sehr glücklich in Berlin, also ich bin auch ein Berliner. Ich habe eine Familie, also bin ich ein Vater und Ehemann.

Aaron K. Roth
Aaron K. Roth
Aaron K. Roth
Auf dem alten Foto sieht man meinen Uropa Rachmiel. Der reiste in den 60ern in seine Geburtsstadt Smarhon in Belarus, die in der Schoah leer geworden war – fast alle Jüdinnen und Juden, die immerhin über 70% der Stadtbe­völkerung vor dem Krieg ausmachten – waren tot oder fort. Mein Uropa konnte auf dem jüdischen Friedhof den Grabstein seines Opas noch in einem guten Zustand finden und wieder herrichten. Dieses Foto mit diesem Grabstein ist die einzige Verbindung zur meiner Familiengeschichte jenseits der Weltkriege. Das ist ein Fenster zur Vergangenheit. So entdeckten wir, dass wir dem Kohenim-Stamm angehören. Den Friedhof gibt es nicht mehr – die sowjetische Stadt Smorgon hat in den 70ern Platz für die neuen Wohngebiete gebraucht.”

Ich denke auch an die Zeiten, in denen ich religiös war, nicht als etwas, was ich verschweigen soll. Das war ein Weg, den ich gegangen bin, während ich mich als Persönlichkeit entwickelt habe. Aber ich definiere mich als Jude nicht mehr durch meine religiöse Zugehörigkeit, sondern durch Geschichte, Kultur und Traditionen. 

Ich finde dieses Bild, dass man jüdisch nur orthodox sein kann, verkehrt. Es ist ganz wichtig zu zeigen und zu verstehen, dass es wahrscheinlich mehr säkulare Juden als religiöse in Deutschland gibt (aber genauso auch in Israel), die ihre Zugehörigkeit zum Judentum eher kulturell leben. Das wird leider zu wenig thematisiert und sichtbar gemacht, obwohl ich genau dort meinen Platz finde. Ich war zwar religiös, definiere mich aber hier und jetzt komplett säkular. Gleichzeitig habe ich genug Wissen über die Religion und über bestimmte Traditionen, Riten und Regeln. Dieses Wissen bleibt ein Teil meiner Identität.

Wir sind als Regenbogenfamilie drei Elternteile. Mein Lebensgefährte und ich, wir sind das Paar. Die Mutter der Kinder gehört ebenfalls zur Familie. Also sind wir zu dritt. Wir kümmern uns um unsere Kinder zusammen. Es gibt keine Trennung, auch keine Haushaltstrennung.

Vor kurzem waren wir beim jüdischen Familien-Wochenende in Bad Sobernheim. Und irgendwann fragt mich meine 8jährige Tochter beim Mittagessen: „Sag mal, sind wir jüdisch? Bin ich jüdisch? Was heißt das?“ Ich war total überrumpelt. Obwohl man sich das ja hätte denken können, dass diese Frage an diesem Ort kommt. Ich antwortete ihr, dass sie jüdisch und deutsch ist, und dass wir das später weiter besprechen können. Das hat sie sehr locker angenommen. Aber irgendwann muss ich eine Antwort geben. Und ich weiß noch nicht, was ich dann sage.

Nach der Halacha sind meine Kinder nicht jüdisch, weil deren Mutter nicht jüdisch ist. Aber in meiner Vorstellung vom Jüdischsein spielt die Halacha eine Nebenrolle. Wenn Sie sich jüdisch fühlen wollen oder sich einfach jüdisch fühlen, dann reicht mir das aus.

Jüdisch zu sein bestimmt nicht nur die Halacha. Da bekomme ich das gleiche Gefühl, das ich hatte, bevor ich zum säkularen Juden geworden bin. Schon damals habe ich die Definition als sehr beschränkend und eingeschränkt wahrgenommen. Da wird zu viel, was einen Juden neben der Halacha ausmacht, ausgeblendet – und zu viel ignoriert. Und damit kann ich keinen Frieden finden.

Eigentlich erlebe ich eine dreifache Diskriminierung: als Migrant, als Schwuler und als Jude. Ich bin in der Lage, meine drei Diskriminierungserfahrungen miteinander zu vergleichen. Da merke ich, dass der Antisemitismus am hartnäckigsten ist, der immer wieder auf die Grenzen der rationalen Erklärungsfähigkeit stößt. Wenn Juden in Deutschland – auch heute noch – als Fremde betrachtet werden und dadurch antisemitisch diskriminiert und behandelt werden, obwohl sie schon seit mindestens 1700 Jahren – diese Zahl muss man bewusst und langsam aussprechen –, wenn Juden also, noch bevor Deutschland Deutschland wurde und bevor das Christentum zur prägenden und richtgebenden Staatsreligion wurde, hier leben und diskriminiert werden, dann ist das ein Armutszeugnis der Gesellschaft. Mir wurde mal vor Jahren die Frage gestellt, ob ich mich als Israeli oder als Deutscher fühle. Beim Nachdenken darüber wurde mir schnell klar, dass ich mich sowohl als auch fühlen darf und kann. Man muss nicht entscheiden, welche Identität man annimmt. Es ist auch ganz normal, dass man gemischte Identitäten oder Teilidentitäten hat und sie gleichzeitig lebt, ohne eine kognitive Dissonanz zu empfinden und sich fehl am Platz zu fühlen.

Wenn ich gefragt werde, kann ich über keine antisemitische Erfahrung berichten. Nur wenn ich mich ganz stark bemühe, kann ich mich an den einen oder anderen Fall erinnern. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass ich die Bedeutung des Antisemitismus unbewusst ausblende. Wenn ich mich ständig damit beschäftige, was heutzutage auf der Straße, am Stammtisch oder sogar in manchen Debatten im Bundestag in Deutschland abläuft, dann wird man sehr schnell pessimistisch. Und das möchte ich nicht. Also bin ich bewusst etwas blauäugig, aber auch fest davon überzeugt, dass eine jüdische Zukunft in Deutschland weiterhin möglich ist.

Meine bewusste Zeit in Kasachstan ist rückblickend leider immer noch mit negativen Erfahrungen verbunden, insbesondere mit antisemitischen Anfeindungen und Angriffen, so dass ich mich mit Kasachstan, meinem Geburtsort, kaum identifizieren kann. Ich vermisse gar nichts, außer der Natur.

In Kasachstan wurde ich häufiger antisemitisch angegriffen. In dem Moment habe ich mich als Jude gefühlt, oder zutreffender gesagt: Meine Umgebung hat mich fühlen lassen, dass ich Jude bin. Unabhängig davon, was ich gerade wollte oder war.

Schon in meiner Pubertät in Kasachstan habe ich mich anders gefühlt. Meine Freunde redeten über Mädchen. Ich wollte aber eher über diesen Jungen aus der Parallelklasse sprechen. Damals dachte ich noch, dass Homosexualität etwas Pathologisches ist, eine Krankheit. Und die wollte ich natürlich nicht haben. Deswegen habe ich diesen Teil meiner Identität ziemlich tief vergraben. Und deshalb – etwas später – bin ich auch religiös geworden. Ich wollte in der Orthodoxie einen Ausweg finden, der mich davor retten kann, schwul zu sein. Das hat offensichtlich nicht geklappt. Irgendwann konnte ich mir dann eingestehen, dass ich diesen Teil meiner Identität nicht totschweigen kann. Sondern dass ich ihn annehmen und akzeptieren soll.

Ich wusste zwar, dass wir und viele Freunde meiner Familie Juden sind, aber ich wusste nicht, was es heißen soll, Jude zu sein. Wir waren eine ganz typische sowjetische Familie. Meine Kenntnisse über das Judentum als Religion waren praktisch nicht vorhanden.

Wenige Jahre nach der Wende, als ich 16 Jahre alt war, habe ich beschlossen nach Israel zu gehen und meine jüdische Identität zu erforschen. Ich habe in einem Sachnut Kulturzentrum einen Hebräisch-Kurs besucht und viel über Israel gelernt. Schließlich bin ich in Israel auf ein religiöses Internat gegangen. Und deshalb – meinem Empfinden nach – war ich schnell integriert und plötzlich 100 Prozent jüdisch, vom Gefühl her sogar 150 Prozent.

Als ich anfing mich in der religiösen Welt unwohl zu fühlen, begann meine Säkularisierung. Ich habe mich zwar nicht weniger jüdisch gefühlt, aber die nächste Stufe erreicht, in der mein Gefühl, jüdisch zu sein, nicht davon abhängig war, wie viele Stunden oder ob ich überhaupt Torah studiere. Damit hatte sich meine jüdische Identität so gefestigt, dass sie von der Religion und von der religiösen Routine unabhängig geworden war.

Ab einem bestimmten Zeitpunkt konnte ich sagen: „Ich bin jüdisch, aber nicht religiös.“ Ich wollte jedenfalls nicht religiös nach einem von außen gezwungenen Muster sein. Ich war bereit, für mich selbst eine eigene Definition von Jüdischsein zu entwickeln und danach zu leben.

Ich denke, man kann eine jüdische Identität unabhängig von Religionen entwickeln und im Fall Deutschlands unabhängig von der jüdischen Gemeinde.

Mir wurde mal vor Jahren die Frage gestellt, ob ich mich als Israeli oder als Deutscher fühle. Beim Nachdenken darüber wurde mir schnell klar, dass ich mich sowohl als auch fühlen darf und kann. Man muss nicht entscheiden, welche Identität man annimmt. Es ist auch ganz normal, dass man gemischte Identitäten oder Teilidentitäten hat und sie gleichzeitig lebt, ohne eine kognitive Dissonanz zu empfinden und sich fehl am Platz zu fühlen.

Aaron K. Roth wurde 1981 in Alma-Ata in Kasachstan geboren. In den späten 1990er Jahren emigrierte er nach Israel, um dort sein Abitur zu absolvieren und an einer Jeschiwa zu studieren. Nach dem Militärdienst und Studienabschluss in Israel ging er 2008 nach Deutschland, um seine eigene kulturell bedingte Voreingenommenheit gegen Deutschland zu hinterfragen und aufzuarbeiten. Er lebt in einer Regenbogenfamilie mit seinem Partner, zwei Kindern und deren Mutter in Berlin. Seit Jahren engagiert er sich sowohl beruflich als auch ehrenamtlich für die jüdische Zukunft in Deutschland und für die Offenheit der jüdischen Gemeinschaft.