Erstens bin ich eine Frau, dann bin ich Europäerin, Berlinerin. Deutsche bin ich auch, mit dem Stolz auf die Aufrechten in Familie und Gesellschaft. Und Jüdin bin ich theoretisch, als „Kultur-Jüdin“ und da mogel ich nicht herum.
Marcia Zuckermann
Journalistin, Schriftstellerin, Berlin
Ich bin Vater-Jüdin. Und gehöre damit nicht zum exklusiven Club der Juden, oder besser gesagt: Dieser Verein will mich nicht haben, er hat mich als Sechsjährige rausgeschmissen, und ich lebe gut damit. Ich werde keinen Giur (Glaubensübertritt) machen. Wozu? Ich bin Atheistin und der formale Übertritt dauert zwei Jahre und kostet bis zu 10.000 Euro. Sich anzudienen, wo du mal rausgeschmissen wurdest? Nein, da ist mein Stolz zu groß. Das mache ich nicht mit. Insofern pflege ich das eigentliche Erbe meiner Familie: als Individuum immer zwischen allen Stühlen zu sitzen und nirgendwo dazuzugehören. Das ist zwar unbequem, manchmal einsam, aber stärkt ungemein, weil wir uns ständig neu erfinden mussten.
Ich habe als deutsche Jüdin mit meinem Hintergrund einen viel stärkeren Bezug zu Deutschland und den guten Traditionen, die Deutschland hat. Die werden durch die jüngste Geschichte sehr stark vernachlässigt und unter den Teppich gekehrt. Auf die Traditionen berufen ich mich und lasse mir mein Deutschtum nicht streitig machen. Im Gegenteil. Wir sind überzeugtere Deutsche, als andere. Weil wir wissen, für welches Deutschland wir stehen.
Die meisten Nachgeborenen der zweiten Generation, die ich getroffen habe, waren traumatisiert vom Schicksal ihrer Eltern. Ich gar nicht. Wie kommt das? Der Unterschied war wohl, dass mein Vater nicht als Opfer, als Jude, in den Faschismus geraten war, sondern als Widerstandskämpfer! Man hat ihm nie seine Würde nehmen können. Und das gibt man, nolens volens, an seine Kinder weiter.
Jüdische Tradition wurden bei uns nicht gepflegt, denn wir waren ja Atheisten. Wenn ich meine jüdische Großmutter besucht hatte, dann hatte sie vielleicht mal die Sabbat-Leuchter auf dem Tisch stehen, aber anschließend haben wir dann gemeinsam Schinkenbrote gegessen.
Die erste Diskriminierung, die ich erfahren hatte, war die von Juden, die mir gesagt haben, du gehörst nicht zu uns. Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, habe ich meiner Großmutter ein Bild geschenkt. Sie fand es schön und sagte dann: „Ach wie schön. Und so ein talentiertes Kind! Wie schade, dass du nie zu uns gehören wirst!“ Sie hat meinem Vater nie verziehen, dass er keine Jüdin geheiratet hat.
Meine Mutter war als Nichtjüdin auch Widerstandskämpferin, eigentlich ihre ganze Familie. Unsere Familie aus beiden Zweigen gehört also in jeder Hinsicht zu einer exotischen Minderheit. Ich habe die Spanienkämpfer und alle Arten von Menschen aus dem Widerstand oder Kommunisten kennengelernt, also die ganze Palette der guten Deutschen und auf dieses Deutschland bin ich stolz. Das wird ja von vielen geleugnet. Ich wusste immer, dass es die Aufrechten gab und gibt, auch wenn die Mehrzahl der Deutschen Mitläufer waren, die irgendeinem Führer hinterherrannten, der wie eine Hyäne im Radio herumheulte. Aber wo auf der Welt sind Helden eigentlich mehrheitsfähig?
Ich fühle eine Affinität mit Menschen jüdischer Herkunft, die ich so ohne weiteres woanders nicht finde. Uns verbindet unser Erbe. Egal, ob wir religiös sind oder nicht. Wir sind Kultur-Juden. Uns verbindet eine bestimmte Art und Weise, Dinge zu sehen, eine gewisse Skepsis, der Humor, die Mentalität. Das ist meine Art Judentum.
In einer Synagoge ist mir alles fremd. Den einzigen Widerhall, der mich wirklich umgehauen hat, war in Jerusalem an der Klagemauer. Da brach ich in Tränen aus und wusste nicht warum. Es schien fast, als ob sich da 50 Generationen von Juden in mir Bahn brachen.
Einer meine Vorfahren, Sigfried Lewinsky, hat im 19. Jahrhundert eine Chronik geschrieben, in der er das jüdische Leben beschreibt. Diese Tradition wurde in der Familie mündlich fortgesetzt. Ich habe viele interessante Familiengeschichten von meiner Mutter und meinen Großmüttern erzählt bekommen. Meine gleichaltrigen Spielkameraden habe ich immer bedauert. Die mussten sich von ihren Eltern Märchen erzählen lassen! Ich hatte viel bessere Geschichten. Erst später im Alter ist mir klar geworden, über was für einen Schatz ich durch diese mündlichen Überlieferungen der Frauen der Familie verfüge. Das hat sich dann in meinem Buch niedergeschlagen.
Bis vor 20 Jahren hatte ich mit dem Judentum überhaupt nichts zu tun. Ich habe ganz normal wie alle Deutschen gelebt: Jeder hatte etwas zu verschweigen. Nur ganz enge Freunde haben irgendwie mal erfahren, dass ich jüdischer Herkunft bin. Ich habe keine „Wurzeln“, denn der Mensch ist kein Baum, sondern ein Nomade! Von meinem Onkel John aus Amerika habe ich dann irgendwann diese Familien- Stammbäume bekommen. Viele Jahre blieben die auf meinem Schreibtisch liegen, bis ich mich damit beschäftigt habe. Und zunächst bin ich an der Überfülle des Stoffs zusammengebrochen. Aber dann habe ich mich leidenschaftlich der Recherche gewidmet und mich intensiv mit dem Judentum ab dem 19. Jahrhundert beschäftigt. Dann wurden mir die verschiedenen Facetten klarer und wie das war in Preußen und Polen mit den verschiedenen Fraktionen. Auf jeden Fall musste ich das Judentum erst einmal lernen und habe mich Stück für Stück eingearbeitet.
Deutschland war das Zentrum des liberalen Judentums, was sich darin ausdrückte, dass in den 1920er Jahren Vater-Juden und Mutter-Juden gleichgestellt waren. Das ist heute fast vergessen. Natürlich hat das alle Orthodoxen gewurmt. Ich bin Vater-Jüdin und deshalb nach jüdischer orthodoxer Betrachtung der Halacha keine Jüdin. Und als Heinz Galinski die West-Berliner jüdische Gemeinde übernahm und meinte, das sei alles Frevel mit dem Reformjudentum, das die Juden zur Strafe doch nur ins Verderben gebracht hatte, weil sie nach Lesart der Orthodoxen Reformjuden „abtrünnig“ von den Traditionen der Väter geworden waren, wurde ich 1953 aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen. Als ob gerade nach der Shoah Juden ein Problem mit Überbevölkerung hätten.
Der Kern meiner engeren Familie hat die Shoa überlebt. Entweder waren sie in einer privilegierten Mischehe durch Ehepartner geschützt, oder hatten es in die Emigration geschafft. Aber auch in der Shoa gab es eine soziale Spaltung. Der entferntere Teil der Familie, all die armen Juden aus der Arbeiterschaft und vom Land sind restlos umgebracht worden: 248!
Mein Vater aus dem Berliner Roten Wedding bildete da eine Ausnahme. Gleich 1933, nach seiner Großtat mit dem Aufpflanzen der roten Fahne am höchsten Berliner Fabrikschornstein als Fanal gegen das Verbot der Gewerkschaften zum 1. Mai, ist er verhaftet worden. Ihn haben wahrscheinlich drei Dinge das KZ überleben lassen: Einmal die guten Gene, seine eiserne Gesundheit des Leistungssportlers, denn er war prämierter Radrennfahrer und, last but not least, auch die mentale Stärke, die Resilienz, das Leid nicht an den inneren Kern der Seele heranzulassen. Mit ausschlaggebend war aber auch etwas, was die meisten Juden nicht erfahren hatten: die Solidarität der nichtjüdischen Genossen und Nachbarn. Insofern hatte die Familie Glück im Unglück.
Mich haben die verschiedenen Überlebensstrategien meiner Familie fasziniert. Und darum war es mir wichtig, den Nachgeborenen, egal ob sie von der Gemeinde als Juden anerkannt wurden oder nicht, und nichtjüdische Widerstandskämpfer waren, mit meinem Roman etwas Eigenes zurückzugeben: ihre unerzählte Geschichte.
Ich habe meinen Roman „Mischpoke!“ genannt, weil ich die Doppeldeutigkeit des Wortes mochte. „Mischpoche“ ist ja das hebräische Wort für Familie. Und dann gibt es das Berliner Slang Wort „Mischpoke“ als Ausdruck für die „bucklige Verwandtschaft“, im Sinne von Menschen, mit denen man verwandt ist, die man aber eigentlich gar nicht kennen will. Das bringt dann das volle Bild.
Wir waren in meiner Familie alle Atheisten. Trotzdem bin als Kind von meinen Eltern in den christlichen Religionsunterricht geschickt worden, nach dem Motto: Das muss das Kind lernen, sonst versteht es die ganze Kunst und Kultur des Abendlandes nicht. Im Religionsunterricht habe ich erstmals Gottesgläubige erlebt und mich gewundert, dass es tatsächlich Leute gibt, die das glauben. Aber vor allem mochte ich die vielen bizarren Bibel-Geschichten. Und das hat sich dann später bei mir festgesetzt. Für eine gute Geschichte lass ich auch heute alles liegen.
Mir wurde vom Elternhaus mitgegeben, dass die Information wo man herstammt, eine Privatangelegenheit ist und dass das draußen niemanden was angeht. Und wenn man auf die relativ dunkle Erscheinung, also in Haar und Augen, angesprochen wurde, galt die Sprachregelung, dass wir mütterlicherseits von Hugenotten aus Südfrankreich abstammten. Ich fand das immer witzig. Außerdem lernte ich als Dissidententochter in der DDR schon früh mit „gespaltener Zunge“ zu reden: Die Kunst mit Reden zu schweigen.
Als ich die ersten Hitler-Aufnahmen hörte, dachte ich mir, sind die Leute irre? Wie kann man denn einem Menschen, der sich so geriert, mit so einem Hass Geheul in einer Stimme folgen? Da rennt doch jeder weg. Sind die alle verrückt geworden? Und heute sehen wir die Neuauflage in Russland. Es kann noch so absurd und schlimm sein, Verhetzung funktioniert. Und das ist die Tragik, wie wenig historische Erfahrung weitergegeben wird, wie wenig lernfähig die Menschheit ist.
Juden haben deshalb Humor, weil Humor die beste Abwehr von Leid ist. Es gibt aber natürlich auch total humorlose Juden. Zweifellos.
Der Leitsatz meiner Mutter war: Glaube nichts, nur Zweifel bringt uns voran. Und das ist die große Lebensweisheit, mit der ich in die Welt geschickt wurde.
Marcia Zuckermann wuchs in Ost-Berlin auf und floh 1958 mit den Eltern nach West-Berlin. Nach der Schulzeit lebte sie in London, Paris, Barcelona und New York. Sie lernte Werbewirtin und nach zahlreichen Jobs in der Werbeindustrie wurde sie Mitbegründerin der Berliner Zeitschrift ZITTY. Sie verließ den Verlag, um als freie Journalistin für Print, Funk und Fernsehen zu arbeiten. Ab 1993 lebte sie sieben Jahre in Spanien und arbeitete für eine deutsch-spanische Verlagsgruppe mit dem Schwerpunkt Reiseland Spanien. Seit 2001 lebt sie als freiberufliche Schriftstellerin wieder in Berlin. Ihr Debutroman „Das vereinigte Paradies“ erschien 1999 bei dtv. Die Familienromane „Mischpoke!“ 2016, und „Schlamassel“, 2021 bei der Frankfurter Verlagsanstalt.