Thomas R. Henschel

Mediator, Berlin

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Ich habe mit 29 Jahren durch einen Zufall erfahren, wer mein biologischer Vater ist. Ich brauchte damals ein Dokument, das sich in Deutschland immer noch „Abstammungsurkunde“ nennt . Und dort fand sich dann ein sogenannter Nebeneintrag mit meinem eigentlichen Vater.

Thomas R. Henschel
Thomas R. Henschel
Thomas R. Henschel
Meine „Abstammungsurkunde“.

Meine jüdische Herkunft spielt für mich im Alltag kaum eine Rolle. Mir ist wichtig, dass Menschen – unabhängig von Herkunft, Orientierung und Vorlieben – autonom und möglichst selbstbestimmt ihr Leben leben können. Ich weiß, dass dies für die meisten Menschen im globalen Süden und auch für die meisten Menschen im globalen Norden, ein nicht erreichbares Ziel ist – aber ich bin davon überzeugt, dass es richtig und wichtig ist, an diesem Ziel festzuhalten. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass wir durch die Vielfalt der Perspektiven, Meinungen und Sichtweisen unterschiedlicher Menschen besser mit den Herausforderungen umgehen können, die wir uns selbst schaffen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass wir konstruktiv mit unserer Vielfalt und Unterschiedlichkeit umgehen können. 

Die Suche nach meiner Familie, meinen Geschwistern und Cousins hat einige Zeit in Anspruch genommen. Ich fand sie dann – verstreut über die halbe Welt: in Israel, in den USA und in England. Meine Geschwister und ihre Familien kennen zu lernen, war überwältigend für mich. Auf einmal passte ich in eine Familie. Hier wurde und wird lebhaft und kontrovers, ehrlich und direkt diskutiert und wir setzen uns ernsthaft miteinander auseinander. Wir sprechen Differenzen an und diskutieren sie miteinander aus. Bis heute bin ich zutiefst dankbar dafür, dass ich meine Familie gefunden habe.

In meiner Familie sind fast alle säkular. Das heißt, es werden zwar die Feste gefeiert, das genieße ich sehr, da es meist sehr lustig ist und wir eher nach dem Motto feiern: Komm, sing schneller, wir sind hungrig. Ich erlebe das als Akt der Selbstvergewisserung einer Familie mit jüdischen Traditionen.

Es ist auch für alle sehr wichtig zu wissen, wo der andere ist. Falls man sich also mal eine Weile nicht meldet, machen sich gleich alle Sorgen und man bekommt Ärger mit seinen Geschwistern. Jeder muss immer wissen, wo der andere gerade ist, wie es geht und ob da alles in Ordnung ist. Wenn wir darüber sprechen, und das tun wir ausführlich, kommen wir zu der Erkenntnis, dass alle wenig Vertrauen darin haben, dass die Umstände stabil sind – vielmehr schwingt ständig die Sorge mit, dass irgendetwas Schlimmes passieren könnte.

Nach meiner Promotion über den Nationalsozialismus habe ich von Anfang an im Themenkomplex Toleranz, Menschenrechte und Demokratie gearbeitet. Ich habe ein internationales Netzwerk von Experten aufgebaut, die sich ausgetauscht und gegenseitig inspiriert haben, wie man konstruktiv mit Konflikten umgehen und aus der notwendigen Vielfalt und den sich daraus ergebenden Differenzen, Mehrwerte schaffen kann. Heute arbeite ich intensiv im Bereich Mediation – wir bilden Mediatoren aus und unterstützen Menschen durch Mediation. Dabei ist es uns wichtig, dass sie Regelungen gestalten, die über das Wahrscheinliche hinaus gehen – die also das schaffen, was darüber hinaus möglich ist. Dieser Charakter der konkreten Utopie treibt mich an.

Wir versuchen Räume zu schaffen, in denen Menschen sich in ihrer Autonomie auf Augenhöhe begegnen können. Mich begeistert, dass Menschen dann tatsächlich anders mit sich, den anderen und ihren Themen und Differenzen umgehen können. Gleichzeitig muss ich zur Kenntnis nehmen, dass – gerade in den vergangenen Jahren – diese Art zu Denken und zu leben immer mehr unter Druck gerät. Die Räume für Freiheit und Autonomie haben viele mächtige Gegner und wir arbeiten heute weniger daran, diese Räume zu öffnen, als vielmehr daran, die noch bestehenden zu verteidigen.

Aus einer jüdischen Familie zu kommen, spielt für meine Arbeit tatsächlich eine Rolle – mein Vater musste vor den Nazis fliehen, vor dem Hass und der Brutalität der Ausgrenzung – daher ist mein Engagement für ein konstruktives Miteinander, indem die Autonomie jedes Einzelnen möglich ist und respektiert wird, sehr konkret mit meiner eigenen Geschichte und der meines Vaters und meiner Geschwister verbunden.

Zu sagen „Ich bin Jude“ findet keinen Widerhall in mir. Aber zu sagen, ich komme aus einer jüdischen Familie, das funktioniert. Dass diese Geschichte vor allem im vergangenen Jahrhundert durch Vertreibung, Ermordung und Verstreuung über die ganze Welt charakterisiert ist, gibt mir eine gewisse Perspektivität auf die Welt.

Unser Vater sprach nie über seine Flucht aus Deutschland vor den Nazis. Geheimnisse in der Familie haben eine Wirkung auf die Kinder. Die Dinge müssen auf den Tisch, sonst können wir sie nicht mehr kontrollieren. Wir Kinder hätten uns gewünscht, dass es ihm möglich gewesen wäre. Heute recherchieren wir in Papieren und Archiven und tragen die Bruchstücke der Erinnerungen zusammen – vor allem meine Schwester in London und ich kümmern uns darum. 

Wenn ich hier in Berlin in den 1970er Jahren mit der U-Bahn gefahren bin und ich mir diese alten Leute angeguckt habe, war mein Gedanke immer: Was hast du gemacht? Warst Du Täter? Und damals wusste ich noch nicht, aus was für einer Familie ich stamme. Dies bestärkt mich in meiner Überzeugung, dass Geheimnisse in einer Familie Wirkungen und Konsequenzen haben.

Als ich Klarheit über meine Herkunft fand, hat das in meinem Freundeskreis zu interessanten Reaktionen geführt. Ich war schockiert, wie tief antisemitische Vorstellungen auch auch unter Gleichaltrigen verhaftet waren und welche Diskussionen man mir aufzwingen wollte. Tatsächlich hat sich mein Freundeskreis damals neu sortiert.

Auch in meiner Arbeit hatte es Konsequenzen. Einige Kollegen waren der Ansicht, dass alle Themen, die mit Antisemitismus und Israel zu tun hatten (allein diese Kombination!) am besten von mir zu bearbeiten wären.

Eine meiner Schwestern gab mir diese Kette von meinem Vater: Ein Davidstern. Und den habe ich eine Weile offen getragen. Das führte zu ganz vielen merkwürdigen Reaktionen. Ich trage ihn schon lange nicht mehr. Weil ich müde geworden bin von diesen Reaktionen. Und ich wollte mich jetzt selber nicht mit einer Facette labeln, die ja auch nur eine Facette ist. Ich sehe es heute so: Diese Phase war wichtig, um mich mit diesem Teil von mir zu verbinden und ihn zu integrieren.

Antisemitismus ist meines Erachtens ein integraler Bestandteil der europäischen Tradition und Narrationen. Daher bedarf es auch einer kontinuierlichen Auseinandersetzung damit. Doch dürfen wir uns dabei nicht auf das Jüdische reduzieren lassen. Deshalb ist mein Ansatz – und hier weiß ich mich einig mit den meisten, die in diesem Bereich arbeiten – gegen jede Form von Diskriminierung, Rassismus oder ethnischer Zuschreibung vorzugehen. Ansonsten bist du schon wieder in die Falle des Antisemitismus getappt – und redest nur über Antisemitismus. Erst wenn jede Art von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Diskriminierung weg ist, wenn jede und jeder autonom leben kann, selbstbestimmt und frei, dann sind auch Juden sicher.

Dr. Thomas R. Henschel hat in Berlin Geschichte und Germanistik studiert. Danach war er 10 Jahre bei der Bertelsmann Stiftung Initiator und Leiter des weltweiten Internationalen Netzwerkes für Toleranz, Menschenrechte und Demokratie und gleichzeitig Leiter der Forschungsgruppe Jugend und Europa an der LMU, einem wissenschaftlichen Beratungszentrum, das die Europäische Kommission und die Bundesregierung beraten hat. 2000 gründete er die MAB und fokussiert seitdem seine Tätigkeiten auf Wirtschaftsmediation, Ausbildung, Coaching und Moderation. Er hat als Mediator und Berater an komplexen Fälle, wie die internationalen Verhandlungen zum Umgang mit der Vogelgrippe, Fair Trade für die Kaffeeherstellung oder aber post-koloniale Themen wie den Genozid in Namibia mitwirken dürfen.