Rafael Herlich

Fotograf, Frankfurt

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Ich stehe nicht morgens auf und sage „heute fotografie-re ich jüdisches Leben in Deutschland“. Ich lebe damit. Meine Kinder sind hier geboren und groß geworden, wir feiern Chanukka und Purim. Wir sind mit der Gemeinde aufgewachsen. Wir leben nicht orthodox, aber Traditionen sind wichtig. Sie müssen erlebt und weitergegeben werden. 

Rafael Herlich
Rafael Herlich
Rafael Herlich
Diese Gruppe Chassidim in Auschwitz erinnert mich an meinen ermordeten religiösen Onkel, von dem ich auch kein Gesicht kenne.

Meine Bilder sind inspiriert von meiner Familiengeschichte und der Shoa. Ob es die Familienzusammenkunft bei einer Bar Mitzwa ist, die ich nicht hatte, oder eine junge orthodoxe Mutter mit ihrem Baby auf dem „March of the Living“, die mich an meinen ermordeten Bruder erinnert, oder die Gruppe Chassidim in Auschwitz, die mir den Rücken zudrehen und mich an meinen Onkel erinnern und von dem ich auch kein Gesicht kenne. Diese Zusammenhänge versteht man natürlich nicht, wenn man meine Geschichte nicht kennt.

Mein Vater ist Holocaust Überlebender und hat uns nach meiner Geburt in Tel Aviv verlassen. Auch bei meiner Bar Mitzwa war er nicht dabei. Dabei ist das ein besonderer Freudentag. Es wird in der Torah gelesen, Großvater oder Vater stehen daneben, die Familie ist zusammen. Und mein Vater war nicht da. Deshalb habe ich meine Bar Mitzwa verdrängt. Und darum fotografiere ich nun seit vielen Jahren auch Bar Mitzwa-Feierlichkeiten in Deutschland. Im Grunde genommen suche ich damit die Geschichte meiner Bar Mitzwa, die ich nie hatte. Fotos einer Familienfeier, wie ich sie mir früher gewünscht habe.

Erst als ich 18 Jahre alt war, rief mich mein Vater aus Frankfurt an und lud mich zu sich ein. Er war ein selbstbewusster und humorvoller Mann, immer schick angezogen mit Anzug und Krawatte. Er war auch sehr stolz auf mich und hat mich geliebt, aber auf seine Art. Richtig zeigen konnte er das nicht. Diese Gefühle waren bei ihm wie abgestorben. Und ohne Gefühle ist es sehr hart. Leider konnten wir auch nicht über seine Vergangenheit reden, bis er im Jahr 2000 gestorben ist. 

2009 meldete sich plötzlich ein Mann bei mir und sagte, er ist auf der Suche nach seinem Vater und glaubt er ist mein Bruder. Die ganze Zeit wussten wir nichts voneinander. In diesem Moment habe ich mich intensiver mit meiner Familiengeschichte auseinandergesetzt. Und da habe ich erfahren, dass drei Brüder meines Vaters mit ihren Familien und Großeltern umgebracht wurden. Vor allem aber hatte mein Vater auch einen Sohn im Babyalter, der erschossen wurde. Da habe ich verstanden, warum es für ihn so schwer war, mit einem Kind aufzuwachsen und warum ich den Namen seines Vaters bekommen habe. Mein Bruder wusste noch nicht mal, dass sein Vater Jude war. Damit hat sich für mich ein Kreis geschlossen, mein Bruder, mein Vater und ich.

Die schönste Entschädigung für früher ist meine Familie. Da gilt: Einer für alle, alle für einen. Wir haben eine unglaublich starke Verbindung zueinander, auch die Geschwister untereinander. Da fühlen wir uns sicher und geliebt. Das ist wirklich ein Geschenk.

Ich war lange Pressefotograf in Frankfurt. Aber kein Bild spricht zu mir wie meine Fotos aus dem jüdischen Leben in Frankfurt. Wenn ein Großvater seinem Enkel einen Kuss auf die Stirn gibt, dann fühle ich das und weiß, das ist wichtig.

Ich spüre den ansteigenden Antisemitismus. Ich höre Sachen wie “Du Scheiß Jude“, oder „Wieso bist du noch nicht vergast". Das kann ich nicht ertragen. Deshalb erzähle ich meine Familiengeschichte auch in Schulen. Damit die Kinder lernen aufzustehen, wenn jemand gehänselt, beschimpft oder geschlagen wird weil er Jude ist. Der Holocaust hat mit solchen Sprüchen angefangen. Das ist meine Arbeit in Deutschland. Dafür stehe ich morgens auf. Deswegen mache ich meine Ausstellungen.

Rafael Herlich wurde 1954 in Tel Aviv als Sohn eines Holocaust-Überlebenden geboren. Nach seiner Ausbildung zum Fotografen in Israel begann 1975 seine berufliche Karriere in Deutschland. Er zählt zu einem der wichtigsten Chronisten jüdischen Lebens in Deutschland. Seine bewegenden Fotografien sind voller Diversität – fernab aller Stigmata, Vorurteile und Stereotypen: Beeindruckende Bilder voller Emotionen, die zum Abbau von Ängsten und Vorurteilen beitragen.