Leon Kahane

Künstler, Berlin

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Für mich war immer klar, dass ich Jude bin. Aber interessanterweise entstehen mit dem Alter immer mehr Unklarheiten. Nicht, weil ich jetzt weniger weiß, sondern weil ich mehr darüber weiß.

Leon Kahane
Leon Kahane
Leon Kahane
Der Ring meines Großvater Max, der von meiner Mutter statt meinem Vater getragen wurde und den ich zum 30. Geburtstag geschenkt bekommen habe. Er wird von den Kahanes in Ost und West getragen.

Judentum, die jüdische Kultur bedeutet Religion, Volk und Nation. Aber Nation im Taschenformat. Das Judentum hat immer diese Nation mit sich herumgetragen, bloß ohne Grenzen und ohne Staat. Das hat mit diesem Blut und Boden Konzept überhaupt nichts zu tun. Es ist vielmehr kulturell und intellektuell konstituierend.

Ich habe keine jüdische Mutter. Mir hat sich die Frage mit der sogenannten Patrilinearität erst relativ spät gestellt. Aber wie geht es jetzt weiter? Was ist, wenn ich mal Kinder habe? Kann ich auf dem jüdischen Friedhof begraben werden? Irgendwas muss ich damit machen. Ich kann die Regeln nicht einfach so an mein Bedürfnis anpassen und sagen, das spielt keine Rolle.

Irgendwann kam der Punkt, an dem ich über die eigenen Familiengeschichte aus einer anderen Perspektive nachdenken musste. Nicht als Legitimation, sondern als größere Fragestellung. Was ist eigentlich mit meinen Großeltern? Was ist mit der ganzen DDR-Geschichte? Warum zurückkommen in die DDR? Was bedeutet das? Wo sind die Trugschlüsse? Wie würde ich damit umgehen? Und so weiter und so fort. An diesen Fragen kommt man nicht vorbei und man wird auch keine einfache Antwort finden. Es ist immer ein Sowohl-als-auch. Es ist immer einerseits-andererseits. Dauernd. Das entspricht nicht dem, was in den meisten Debatten gefordert wird. Aber das müssen Künstler auch nicht erfüllen.

Ich habe sehr konkrete Vorstellungen davon, was zum Jude-Sein dazugehört. Und das sind alles Dinge, die sich um das Thema Kultur drehen. Weniger, ob man praktiziert oder welche Rituale man einhält. Durch diese lernt man sehr viel und sie haben auch eine Funktion. Aber die Funktion kann nur darin bestehen, eine Kultur zu etablieren und zu konstituieren.

Das Judentum ist für mich identitätsstiftend. Aber es ist etwas Eigenes. Es ist etwas, was mit Identität zu tun hat, aber auch in einem direkten Konflikt mit Identität steht.

Die Halacha hat einen existenziellen Zweck. Zum Beispiel schützt man sich gegen die kurzweiligen Einwirkungen des Zeitgeists. Das Judentum, wie es heute existiert, hat auch damit zu tun, dass man auf der Halacha beharrt hat. Egal, in welchem Zustand sie jeweils war, denn die Halacha ist veränderlich. Nicht religiös zu sein bedeutet nicht, dass man deshalb der Halacha die kulturelle Bedeutung abspricht. Deshalb habe ich mich auch entschlossen, eine sogenannte Statuskorrektur vor dem Beit Din zu machen.

Antisemitismus ist nichts weiter als eine Kulturtechnik, eine Denkschule, eine Art und Weise, wie man Problemen begegnet. Wie man aus der eigenen Kulturgeschichte heraus auf die Herausforderungen des Lebens reagiert. Im Judentum gibt es keine Externalisierung des Bösen. Keine Erlösung und kein Jenseits. Die Möglichkeit zur eigenen Schuld ist im Judentum die Bedingung, um ein eigenverantwortliches Individuum zu sein. Schuldabwehr ist also aus jüdischer Perspektive etwas völlig Irrsinniges. Antisemitismus hingegen hat immer etwas mit Schuldabwehr zu tun.

Ist es nicht absurd, dass in Deutschland einige sehr wichtige jüdische Funktionsträger konvertiert sind zum Judentum, dass einige wichtige Kultureinrichtungen geleitet werden von konvertierten Juden und Jüdinnen, die zwar keinen kulturellen Bezug zum Judentum haben, die aber den Juden ständig sagen, wo es langgeht und sowieso alles besser wissen.

Die jüdische Perspektive, also etwas, was dann doch alle gemein haben, ist, dass man aus einem gewissen Erfahrungsschatz spricht und aus einem kulturellen Selbstverständnis. Und das kann man schwer durch Konversion oder durch ein Studium der Judaistik einfach so annehmen.

Im Judentum entwickelt sich Kultur aus der Emanzipation von Identität. Das heißt Dinge, die klar wirken oder unveränderbar zu sein scheinen, müssen hinterfragt werden. Jude zu sein bedeutet sich die Frage zu stellen, was es bedeutet Jude zu sein.

In den Identitätsdebatten wird in der Regel nach klaren Antworten auf schwere oder vielleicht sogar nicht lösbare Fragen gesucht. Ich glaube, dass das für die jüdische Kultur nicht wirklich interessant ist. Höchstens als Phänomen, mit dem man sich beschäftigen muss, aber nicht zum besseren Verständnis der Welt. Deshalb habe ich oft das Gefühl, dass sich diese Debatte eher von außen ans Judentum heranträgt.

Leon Kahane (geb. 1985 in Berlin) setzt sich in seinen konzeptuellen Videoarbeiten, Fotografien und Installationen mit Migration und Identität in einer globalisierten Gesellschaft auseinander. Immer wieder lenkt er die Aufmerksamkeit auf historische Ereignisse und Institutionen, um deren Widersprüche in den Blick zu nehmen. Ausgehend von seiner Familiengeschichte reflektiert er die soziale, politische und ökonomische Bedingtheit von Zeitgeschichte. Er analysiert bestehende gesellschaftliche Verhältnisse und verortet sie in aktuellen politischen Tendenzen.