Jörg Benario

Reiseführer, Berlin

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Meine Großmutter erklärte mir erst als ich sieben oder acht war, dass wir Juden sind. Mein deutscher Vorname war zum Beispiel eine Vorsichtsmaßnahme in meiner Altersklasse. Zumindest aus Berlin kenne ich keinen mit einem jüdischen oder hebräischem Vornamen. Man wusste ja nie, ob da nicht der SS-Opa die Erziehung des Sitznachbarn in der Schule übernommen hatte. Sowohl meine Großeltern als auch meine Eltern wollten, dass ich in der Lage wäre, das rational zu begreifen und mich gegen Anfeindungen zu wehren.

Jörg Benario
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1963 gab eine Frau in Prag meiner Großmutter einen Anhänger mit der Aufschrift „Dein Glücksstern“ und erzählte, dass ihr dieser 1941 von einer Frau auf dem Transport nach Theresienstadt gegeben wurde mit den Worten: „Bewahren sie ihn gut auf, bis ich wieder zurück bin“. Die Frau meinte, in unserer jüdischen Familie sei er besser aufgehoben als bei ihr, da die ursprüngliche Besitzerin wohl nie wiederkehren würde.

Meine religiöse Unterweisung fand größtenteils in der Gemeinde oder der Jugendgruppe statt. Später waren es dann der Kantor und mein Großvater, die auf Fragen antworteten oder mir Dinge erklärten. Ob es die Tradition mit den Steinchen auf dem Grab oder die Jahrzeit waren. Die Frage der Beschneidung oder Bar Mitzwa haben meine Eltern mir überlassen. Mein Großvater meinte, obwohl nicht gläubig, das ist nicht notwendig, um sich als Jude zu fühlen, aber es ist eine Tradition und es ist schön. Ansonsten bin ich eher auf der rationalen Seite und in der generellen Erziehung durch meinen Vater und Großvater atheistisch sozialisiert.

Als ich dann zum ersten Mal in die Kindergruppe der Gemeinde kam, fühlte ich dieses Ankommen. Da sitzt so ein Haufen und du wirst nicht beäugt, sondern gehörst sofort dazu. Ob das nun an gewissen Verhaltensweisen oder einfach am Wissen darum lag, war mir nicht klar.

Ich wurde oft in der Schule ausgegrenzt. Allerdings als Halbrusse. In der DDR gab es überhaupt keinen Schutz der Privatsphäre. Jeder meiner Klassenkameraden wusste, dass meine Mutter in Moskau geboren war. Aber warum sie in Moskau geboren wurde wusste ich als Kind noch nicht. Das Verständnis für die Migrationsgeschichte und die Annäherung an die jüdische Familiengeschichte kamen erst später. Und dann fühlt man sich immer als Außenseiter.

Die jüdische Identität sind tradierte Verhaltensweisen, die teilweise aus 2000 Jahren Verfolgung oder Diskriminierung herrühren, seien es im Kodizes, in Bewegung, in Sprache, in der Art und Weise, miteinander umzugehen. Das kann man sich natürlich auch alles einreden, aber es gibt immer wieder so ein gewisses Erkennen. Ob es nun ein eingestreutes Oiweh ist oder dass man bei persönlichen Geschichte genauer zuhört.

Ab einem gewissen Alter war das Jüdischsein die Erklärung für alles. Man konnte dem Kind erklären, warum die Familie nicht da war. Und wenn nur noch eine kleine Kernfamilie übrig ist, dann legt man Wert auf gewisse Traditionen in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Miteinander. Nicht unbedingt auf religiöse Traditionen. Das wird mit gelehrt, um das Ganze zu erklären.

Die Identifikation als Jude habe ich vor allem unter Diaspora-Juden feststellen können. Das heißt, dieses jüdisch sein, dieses jüdische Dasein, die jüdische Kultur, was immer da tradiert wurde, ergibt sich aus dem Leben in der Diaspora. In Israel steht an erster Stelle die israelische Identität.

Und die Nazis? Na ja, gut, die waren nie weg, weder in Ost noch in West. Auf der einen Seite in staatstragender Funktion und auf der anderen Seite gut integriert. Man kann niemanden entnazifizieren.

Ich renne nicht mit einer Kippa durch die Gegend, würde aber auf jeden Fall sofort dafür einstehen, wenn jemand deswegen angefeindet wird – denn das muss in der Öffentlichkeit akzeptiert werden.

Jörg Benario ist ein wahrer Berliner und seit fast 37 Jahren Stadtführer. Nach der Wende eröffnete er 1994 eine der ersten Galerien in der Auguststraße und führte dort die Petersburger Hängung ein. Als die Mieten stiegen, zog es ihn in den Prenzlauer Berg, wo er eine Eckkneipe mit Cocktailbar eröffnete und Punk und Rockmusik spielte. Er liebt die Stadt wohnt aber mit Frau und Kind auf dem Land.